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Jiro Taniguchi – ein Manga-Künstler der besonderen Art
Wenn man das Thema Manga in Deutschland in einem Gespräch anschneidet, bekommt man oft gemischte Reaktionen. Kinder, Jugendliche und auch jüngere Erwachsene sind oft begeistert und berichten von ihren Erfahrungen mit den verschiedensten Manga-Büchern oder auch von Animes, die oft auf zuvor erschienenen Manga-Publikationen basieren. Erwachsene, die bisher noch wenig Erfahrungen mit Manga sammeln konnten, erwidern jedoch häufig: „Ach, das ist doch nur was für Kinder! Da gibt es immer so wenig Text. Das ist doch keine richtige Literatur.“ Und da beginnen die Gespräche interessant zu werden. Sicher ist es richtig, dass viele Mangas, die bei uns erschienen sind, eher auf ein jüngeres Publikum abzielen – mit Geschichten, die in der Schule spielen und in denen es um die erste Liebe, Probleme im Alltag oder auch ganz fantastische Dinge geht. Doch ganz so einfach ist es nicht. In Japan gibt es Manga zu allen möglichen Themen und für alle Zielgruppen – für Kinder und/oder Erwachsene, speziell für Jungen oder Mädchen bzw. Männer oder Frauen. Es gibt auch Manga, die Bildungsinhalte vermitteln, u. a. zu traditionellen Themen, wie Teezeremonie oder Ikebana. Durch die Kunstform Manga sind gerade diese Lehrbücher besonders hilfreich, da sie kurzweilig sind und durch die bildliche Darstellung die Lehrinhalte besonders anschaulich vermitteln können.
Ein weiterer wichtiger Punkt sind die verschiedenen Zeichenstile. Auch wenn die Lehrbücher zum Manga-Zeichnen einen gewissen Grundstil vermitteln, den die meisten von Ihnen sicher vor Augen haben, gibt es doch große Unterschiede. Insbesondere in der Detailgenauigkeit der Darstellungsweise zeigt sich, wie groß die künstlerische Spannbreite der einzelnen Manga-Zeichner ist. Um dies zu verdeutlichen und dem erwachsenen Publikum die Kunstform Manga näherzubringen, haben sich viele Verlage entschieden, diese künstlerisch wertvollen Mangas mit Geschichten für Erwachsene unter dem Label „graphic novel“ zu publizieren. Ein Beispiel hierfür sind zahlreiche Arbeiten des Manga-Künstlers Jiro Taniguchi, die hierzulande auf Deutsch erschienen sind.
Jiro Taniguchi wurde am 14. August 1947 in Tottori geboren. Seine Karriere begann er mit 19 Jahren als Assistent des Manga-Künstlers Kyuta Ishikawa. Hier lernte er, ernsthafte Themen für ein erwachsenes Publikum in einem realistischen Zeichenstil zu bearbeiten. Mit Mitte 20 zog es ihn nach Tokio, wo er auch begann, eigene Werke zu publizieren. Künstlerisch war er stark von frankobelgischen Comics beeindruckt und auch beeinflusst. Vermutlich ist dies der Grund, warum uns seine Arbeiten weniger fremd vorkommen. Die für Manga-Zeichnungen so typisch großen Augen kommen in seinen Arbeiten nicht vor. Insgesamt sind die Geschichten ruhig – ja fast meditativ – erzählt. Neben Naturthemen beschäftigt er sich mit u. a. mit historischen Gegebenheiten, bindet aber später auch oft autobiografische Elemente mit ein. Seine Arbeiten sind in der Regel begleitet durch intensive Recherchen zu den Handlungsorten, um diese so detailgenau wie möglich wiederzugeben.
Der vielfach ausgezeichnete Manga-Künstler wurde erst relativ spät im deutschsprachigen Raum bekannt. 2006 erschien zunächst der Kurzgeschichten-Band „Der Wanderer im Eis“. Inzwischen sind viele weitere Publikationen gefolgt, z. B. „Der spazierende Mann“, „Die Sicht der Dinge“, „Die Stadt und das Mädchen“ und „Die Wächter des Louvre“, um nur einige zu nennen.
Jede für sich ist ein Meisterwerk, angenehm zu lesen und an ein erwachsenes Publikum gerichtet. Ergänzend wurden drei Kurzgeschichten des Autors für ein Sonderheft zum Thema „Jiro Taniguchi“ ausgewählt und kostenlos im Rahmen des „Gratis Comic Tag 2016“ einer Vielzahl von Leserinnen und Lesern zur Verfügung gestellt, was sicher weiter zur Erhöhung des Bekanntheitsgrades des Künstlers bei uns beigetragen hat. Bestürzt erfuhr ich am Ende des Buches „Venedig“ im Anhang zur Biografie, dass dieser wunderbare Zeichner am 11. Februar 2017 im Alter von 69 Jahren verstarb und nun eine große Lücke bei allen, die ihn kannten und verehrten, hinterlässt. In diesem Jahr wurde posthum ein unvollendetes Werk von ihm in Deutschland publiziert, an dem er bis zuletzt gearbeitet hatte und das eigentlich deutlich umfangreicher werden sollte. „Im Jahrtausendwald“ ist ein für ihn sehr typisches Werk, das sich erneut sehr ausdrucksstark dem Thema Natur im Wechselspiel mit dem Menschen widmet. Ungewöhnlich ist das große Querformat, das bereits bei „Venedig“ zum Einsatz kam und wunderbar zum Stil und zum Thema passt. Vielleicht haben Sie ja Lust bekommen, diesen Manga-Künstler näher zu entdecken. Ein Blick in seine Bücher lohnt sich auf jeden Fall – vielleicht bei Ihrem nächsten Besuch in einer größeren Buchhandlung oder auch in einer Bibliothek, die Veröffentlichungen zu Manga oder „graphic novels“ bereithält. Viel Spaß beim Lesen und beim Betrachten der Zeichnungen!
Autorin: Dr. Verena Materna